Geförderte Projekte

Erinnerungenschaften: Stimmen deutsch-türkischer Postmigrant:innen im Podcast

Serap Yılmaz-Dreger ist als Talentscout in Köln tätig und lebt in Düsseldorf. Im Studium der Soziologie und Turkologie schärfte sie ihren Blick für Marginalisierung und hybride Identitäten. Darauf kann sie in ihrem Podcast Erinnerungenschaften stets zurückgreifen. Dieser wird von Maviblau e. V., einer Plattform für Kunst und Kultur von Gruppen im türkisch-deutschen Kontext, produziert und von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN gefördert. Im Interview mit Arsprototo berichtet sie von ihren Gesprächen mit Menschen, die sie auf ihrer Recherche zur postmigrantischen Gesellschaft traf.

Im Rhythmus von sechs Wochen veröffentlichen Serap Yılmaz-Dreger und ihr Team seit Oktober 2021 je eine Folge ihres siebenteiligen Podcasts. Zusammen mit ihren Gästen, die vier Generationen abbilden, zeigt sie eine neue Erinnerungskultur auf, die postmigrantische Stimmen als gleichwertigen Bestandteil des deutschen Gedächtnisses begreift. Darin lässt Serap Yılmaz-Dreger Menschen auf Deutsch oder Türkisch zu Wort kommen, die ihre persönlichen Eindrücke und Empfindungen hinsichtlich der Umbrüche in Politik, Gesellschaft und Ökonomie mitteilen. Ausgehend vom Anwerbeabkommen in den 1960er-Jahren geleitet ein in Dekaden gestaffelter Zeitstrahl die Hörer durch prägende Ereignisse im deutsch-türkischen Kontext. Gewerkschaftsvereinigungen der 1970er-Jahre, Firmengründungen der 1980er-Jahre, die Auswirkungen des Mauerfalls oder das im Jahr 2000 reformierte Staatsangehörigkeitsgesetz in Deutschland werden so neu erzählt.

Arsprototo: Wie haben Sie zu dem Projekt gefunden?

Serap Yılmaz-Dreger: Maviblau e.V. lobte im Jahr 2020 einen Wettbewerb aus, in dem sie um kreative Auseinandersetzungen mit dem Thema Erinnerungen baten. Die Relevanz dieses Themas wurde mir im Zuge der Corona-Pandemie bewusst, die mir die Endlichkeit von Erinnerungen aufzeigte. Schließlich können sie nur so lange eingefangen werden wie sie erzählt werden können. Mir ist aufgefallen, dass vor allem die Erfahrungen der ersten Generationen deutsch-türkischer Postmigrant:innen nur wenig aufgearbeitet sind. So fasste ich den Entschluss, dem Schwund dieser Stimmen mit einem Pod­cast entgegenzuwirken. Ich schlug dem Verein meine Idee vor und glücklicherweise konnte ich ihn davon überzeugen.

Nach welchen Kriterien suchen Sie ihre Gesprächs­partner:innen aus?

Zunächst ist es für mich entscheidend, dass sich meine Gesprächspartner:innen wohl fühlen. Sie sollten in der Lage sein, biografisch offen über ihre postmigrantischen Erfahrungen zu reden. Da in meinem Podcast sowohl Errungenschaften als auch heikle Themen wie Rassismus und Ausgrenzung behandelt werden, bedarf es der Bereitschaft, diese Komplexität und Gleichzeitigkeit von Erfahrungen mit den Hörer:innen zu teilen. Der Pod­cast folgt einem Zeitstrahl, der in den 1960er-Jahren beginnt und durch die Dekaden in die Gegenwart reicht. Demgemäß wollte ich mit Menschen aus verschiedenen Generationen ins Gespräch kommen, die ihre eigenen Erlebnisse des jeweiligen Jahrzehnts teilen können. Die Unmittelbarkeit ihrer Erzählungen ist für mich ganz wichtig. Um dies zu gewährleisten, sind manche Folgen auf Türkisch und andere auf Deutsch, wenngleich Transkripte und Übersetzungen das Gesagte allen zugänglich machen.

Warum haben Sie sich mit dem Podcast für ein auditives Medium entschieden?

Deutsch-türkische Erinnerungen werden meines Erachtens nach eher in einer oralen Geschichte erhalten. So berichten Geschichtsbücher in der Schule kaum oder gar nicht darüber. Die mündliche Natur ebenjener Erinnerungen wollte ich genau in dieser ursprünglichen Medialität auffangen. Der Podcast bietet mir dazu die Möglichkeit und hat überdies den Vorteil, sich für die folgenden Generationen zu erhalten. Die Stimmen von Menschen zu hören, nicht einfach nur ihre Worte zu lesen, hat eine gewaltige Intensität und Gegenwärtigkeit. Das Dialogische des Pod­casts soll auch bei den Hörer:innen die Bereitschaft zum transkulturellen Austausch ankurbeln. Nicht zu verkennen ist zudem der Stellenwert des Mediums. Generationsübergreifend erfreuen sich Podcasts aufgrund ihrer mobilen Verfügbarkeit großer Beliebtheit. Auch Erinnerungenschaften lässt sich ganz einfach über den Anbieter Spotify anhören.

Wie muss man sich das Setting vorstellen, in dem die Aufzeichnungen erfolgten?

Um einen ungezwungenen Dialog zu ge­währleisten, braucht es eine entspannte Atmosphäre. So frage ich meine Gesprächspartner:innen vorab, wo sie sich am wohlsten fühlen. Natürlich muss auch die Soundqualität an den jeweiligen Orten genügen, sodass Innenräume mit geringer Geräuschkulisse hoch im Kurs sind. So habe ich etwa in Folge 1 das Ehepaar Serpil und Naci Palaz in ihrer Wohnung am Marmarameer besucht und in Folge 3 über neue Formen der Arbeit Irfan Gündoğan in seinem Büro getroffen. Dazu trinken wir Çay (türkischen Tee), der für Entspannung sorgt und zugleich die Zunge löst. Um das auditive Erlebnis des Pod­casts auch visuell zu erfahren, fertigt meine Kollegin Marie Konrad digitale und analoge Fotografien an, die wie der Podcast auf der Webseite von Maviblau e.V. zu finden sind. Sie zeigen neben den Podcastteilnehmer:innen das jeweilige Setting sowie Impressionen, die ein Gefühl für deren Lebenswelt geben und die Hörer:innen in Bildern auf die Inhalte einstimmen.

Warum ist das Erinnern für Sie so wichtig?

Die Erinnerungen, die ich in meinem Podcast teile, sind bis dato von der deutschen Geschichtsschreibung vernachlässigt worden. Postmigrantische Erfahrungen werden immer noch nicht als Teil der deutschen Erinnerungskultur begriffen, sondern als ein für sich stehender Speicher einer Parallelgesellschaft. Genau damit will ich aufräumen, indem ich vor allem Menschen ihre Erfahrungen teilen lasse, die etwa über die wenig aufgearbeiteten 1960er-Jahre und 1970er-Jahre sprechen. Da musste ich wirklich von 0 auf 100 recherchieren. Zum Glück hatte ich die Unterstützung vom gut vernetzten Verein, der mir passende Kontakte vermitteln konnte. In dem Podcast gibt es immer wieder Momente, in denen auffällt, dass sich noch nicht genug getan hat und alte Muster und Rassismen fortbestehen. Demnach richtet sich der Podcast an alle Menschen und kann hoffentlich dazu beitragen, dass Erinnerungskultur wie selbstverständlich postmigrantische Stimmen beinhaltet.

Interview: Richard Müller, Kunsthistoriker in Berlin

Dieser Beitrag ist im Juli 2022 im Magazin Arsprototo (Ausgabe 01/2022) erschienen.

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