„Mister Lügenmaul Churchill“ ist gerade das Objekt der Woche: Langsam dreht sich im imaginären Museum Puppets 4.0 die Propaganda-Handpuppe aus dem Zweiten Weltkrieg als 3D-Animation. Das Deutsche Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp) hat seine umfangreiche Sammlung an Puppen mit einem photogrammetrischen Verfahren als 3D-Modelle erfasst. Seit letztem Jahr präsentiert man die Figuren aus aller Welt, die auf die Sammlung des Theaterwissenschaftlers und Verlegers Fritz Wortelmann (1902 – 1976) zurückgeht, für die Besucher als immersives Erlebnis mithilfe von VR-Brillen. „Politisches Puppentheater kann zu einer gefährlichen Waffe werden!“, erkannte der Sammler Wortelmann, der sich zeitlebens der Verbreitung der Puppenspielkunst widmete. Den zigarrerauchenden Premierminister hat Harro Siegel (1900 – 1985), Marionettenspieler und Dozent, entworfen. Von 1938 – 1943 war er als Künstlerischer Leiter am Reichsinstitut für Puppenspiel tätig und galt als führender Puppenspieler der Nationalsozialisten. Siegel gestaltete eine ganze Serie von massenhaft angefertigten Puppen aus Holz oder Labolit, die überwiegend für Laienspieler gedacht waren. Aber auch bei der Unterhaltung von Soldaten an der Front dienten Puppen der Kriegspropaganda.
Handpuppen, Stabfiguren, Masken, Schattenfiguren aus Europa, Asien, Australien und Afrika: In fünf virtuellen Räumen sind bei Puppets 4.0 beispielweise die verschiedenen lustigen Figuren weltweit zu erkunden, auf einem Basar dreht sich alles um das indonesische Figurentheater, ein Raum informiert über historisches Handpuppenspiel ab 1900, die erwähnten Puppen als NS-Propagandamittel oder das künstlerisches Handpuppenspiel von Lore Lafin (1903 – 1999). Mit dabei als auskunftsfreudiger animierter Guide ist der Sammler Wortelmann höchstpersönlich. Das Deutsche Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst hat aus der Not eine Tugend gemacht. Nachdem der eigentliche Plan, eine eigene Ausstellung der Sammlung in Bochum zu etablieren, an der Finanzierung scheiterte, entwickelte die Leiterin Annette Dabs zusammen mit dem Startup digifactura eine virtuelle Ausstellung. „Ein toller Experimentierraum öffnete sich für uns“, berichtet Projektleiterin Mareike Gaubitz. „Von Anfang an war uns klar, dass wir mit der virtuellen Version auch ein neues Publikum erreichen können.“
Zusätzliches Videomaterial oder der vertiefende Audioguide machen das immersive Erlebnis komplett. Mit Puppets 4.0 ist das dfp nun bundesweit auch unterwegs zu Schulen oder Festivals. „Für viele ist dieser Museumsbuch das erste virtuelle Erlebnis und entsprechend aufregend“, sagt Mareike Gaubitz vom dfp. „Manchmal gibt es, gerade im ländlichen Raum, schon noch Berührungsängste.“ Aber gerade, weil es eben kein actiongeladenes Game, sondern eine museale Präsentation sei, falle es den Besuchern leichter, die Schwelle ins VR-Erlebnis zu überwinden. KULTUR.GEMEINSCHAFTEN ermöglichte, neben der Anschubfinanzierung für eine Podcast-Reihe des dfp, jetzt die Erstellung der englischen Version von Puppets 4.0 „Gerade organisieren wir die erste Anfrage aus Finnland“, erzählt Mareike Gaubitz, die sich auf die internationale Perspektive für die Bochumer Sammlung freut.
Text: Johannes Fellmann
Dieser Beitrag ist im Juli 2022 im Magazin Arsprototo (Ausgabe 01/2022) erschienen.