Glasklar und schmerzerfüllt tönt die Stimme einer jungen Frau durch den Raum. Hinter ihr zwei von bestickten Gardinen verhangene Fenster, neben ihr ein Holzstumpf. Sie lehnt an einem Pfeiler in der Schulaula im ostukrainischen Nikolajewka. Alles ist in ein halbdunkles, orangenes Licht getaucht. Gespannt betrachtet man das Mädchen – dann wandert die Aufmerksamkeit auf den Henkersknoten, der still, doch nicht heimlich neben ihr hängt.
Es ist die erste Szene des 12-minütigen Films „Heroes“, der auf dem YouTube-Kanal von „Theatre 4 National Affairs“ gestreamt werden kann. Er erzählt die Geschichte von Schülern aus dem Donbass im Osten der Ukraine, als sie zum ersten Mal etwas über den Holocaust und die Folgen für ihr eigenes Land erfahren.
Das Gemeinschaftsprojekt „Theatre 4 National Affairs“ verbindet vier europäische Theater aus Deutschland, der Ukraine, Bulgarien und Russland miteinander zu einem digitalen Projekt. Die gleichnamige YouTube-Plattform soll funktionieren wie ein echtes Theater: Performances, Workshops, Vorträge und Inszenierungen sind Teil des Repertoires.
Die Transformation des Theaters in digitale Räume schafft ein ganz neues Genre, mit vielfältigen Möglichkeiten der Darstellung, Kooperationen über Ländergrenzen hinweg und fungiert als ein digitales Archiv der sonst flüchtigen Kunstform. Im Fokus der Arbeiten von Georg Genoux und seinen Mitspielern liegt ein zeitgenössischer Blick auf Geschichten von Menschen im postsowjetischen Raum.
Herr Genoux, braucht das Theater die digitale Bühne?
Ja. Es gibt viele Gründe, gerade für meine oft sensiblen Projekte, die dafürsprechen. Ein Theaterstück zu filmen, hat einen anderen Effekt als es wieder und wieder aufzuführen. Ein Film entfaltet seine volle Kraft immer von neuem. Mit dem Theaterfilm können wir auf Reise gehen und ihn an anderen Orten präsentieren. Die Schauspieler und Schauspielerinnen teilen oft schmerzvolle Leiderfahrungen, mir ist es wichtig, dass sie sich nicht ausgestellt oder vorgeführt vorkommen. Das vermeiden wir durch die digitale Präsentationsform.
Es bietet sich zum anderen auch aus rein praktischen Gründen an. In unseren Projekten kooperieren Theater gemeinsam mit Schulen aus verschiedenen Ländern, in einem arbeiten zum Beispiel Schüler des Matthias-Claudius-Gymnasiums in Hamburg und der Schule Nr. 3 im russischen Nikolajewka zusammen. Das Kennenlernen und Proben fand in digitaler Form statt, es fehlt schlicht an den finanziellen Mitteln, sich dauernd zu besuchen. So hat die Zusammenarbeit trotzdem wunderbar funktioniert.
Sie arbeiten schon seit 2014 mit Menschen aus Krisengebieten, besonders in Osteuropa. Im Zuge des Kriegsausbruchs im Februar 2022 in der Ukraine haben Sie es Menschen ermöglicht, nach Deutschland zu kommen. Mit dem Thespis Zentrum des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen gründen Sie das „Theatre for Displaced People“, an dem die Geflüchteten an künstlerischen Projekten teilnehmen können. Gibt es in Krisen überhaupt Raum für Kultur?
Umso mehr. Ich glaube, dass wir gerade in unsicheren Situationen Kunst und Kultur brauchen. Aus meiner langjährigen Erfahrung kann ich gut beurteilen, dass die Menschen dann vielleicht sogar noch empfänglicher für Kultur sind. Sie schenkt den Menschen Kraft und Wärme. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob wir es „Theater“ nennen, was wir in unseren Projekten machen. Es geht um Unterstützung, Ablenkung. Die Teilnehmer haben dann auch einen Raum, über ernste Dinge zu sprechen.
In der Zusammenarbeit mit den ukrainischen Schülern im Projekt „Helden“, das im Dezember 2021 in Nikolajewka Premiere feierte, haben wir erlebt, wie die eigenen Kriegserfahrungen zum Motor des Prozesses wurden. Im Theater muss man sich in Rollen, in Menschen, in Täter und Opfer hineinversetzen. Dabei können die Teilnehmer ihre persönlichen, schmerzhaften Erfahrungen in einem geschützten Raum reflektieren.
Theater schenkt also Kraft.
Genau, es ist vielleicht das erste Mal, dass du erlebst, dass du nicht alleine bist. In der heutigen Welt ist das unglaublich viel wert, wenn die eigenen Gedanken und Gefühle ernstgenommen werden. Besonders für Jugendliche hat es eine große Bedeutung, sich akzeptiert zu fühlen. Nach Produktionen kamen Menschen zu mir und haben sich bedankt. Dafür, dass wir ausgesprochen haben, was sie fühlen. Einer unserer Schüler sagte einmal: „Ich fühle mich nicht mehr als Opfer meiner Geschichte, sondern als Held. Ich kann meine Geschichte mitteilen und anderen damit helfen.“
Sie haben sich mit dem Projekt „Theatre 4 National Affairs“ für eine Transformation der klassischen Theateraufführung in den digitalen Raum entschieden. Worauf muss man bei der Übertragung in diese Form achten?
Ähnlich wie beim Film spielt hier Kameraarbeit eine große Rolle. Es ist aber kein klassischer Spielfilm, es bleibt immer noch Theater, und da sind die Gesetze anders. Wir arbeiten daher mit Kameramenschen zusammen, die auch im Theater zuhause sind und viel davon verstehen. Die Kamerafrau unseres Filmprojekts „Helden“, Alina Kobernik, war selbst eine Schülerin, die ich 2014 in der Ostukraine kennenlernte. Sie wirkte damals in der Produktion „School #3“ im Donbass mit und entschloss sich anschließend, Regie und Kamera zu studieren. Seit vielen Jahren kennt sie unsere Theaterarbeit, deswegen konnte sie sich gut einfühlen und die Stimmung des Stücks filmisch sehr gut festhalten.
Der digitale Bereich ist für das Theater keine Notlösung. Es ist eine eigene Gattung, die sich noch wahnsinnig weiterentwickeln kann.
(Georg Genoux, Theatre 4 National Affairs)
Durch die Kombination mit dem Genre „Film“ tun sich ganz neue Möglichkeiten auf. Welchen Weg gehen Sie mit Ihrem Filmprojekt „Vor deinen Augen verbeuge ich mich“?
In diesem Projekt mit Anastasia Tarkhanova lassen wir Menschen aus Ostdeutschland zu Wort kommen, die von sich erzählen. Im Film befinden wir uns an realen Orten in Hagenwerder und treffen dessen Bürger. Wir sind nicht mehr an die Bühne gebunden, wie es bei der klassischen Aufführung der Fall ist. Das gibt uns die Möglichkeit, Situationen zu bauen, die so im Theaterraum nicht umsetzbar sind. Parallel dazu zeigen wir im Film eine nachgebaute Miniaturstadt, bevölkert von kleinen Figuren aus Karton für eine Modellwelt unserer realen Protagonisten. Wenn die Beteiligten dann plötzlich vor sich selbst in Figurengröße stehen bringt das großen Spaß. Das Wechselspiel dieser Bilder funktioniert nur durch den Ansatz, alles zu verfilmen. Doch der digitale Bereich ist für das Theater keine Notlösung. Es ist eine eigene Gattung, die sich noch wahnsinnig weiterentwickeln kann.
Der digitale Bereich hat durch die Pandemie einiges an Aufschwung bekommen.
Das war doch wenigstens ein guter Aspekt. Bei all den traurigen, schrecklichen Sachen. Durch die Pandemie waren wir gezwungen, Dinge weiterzuentwickeln und neu zu denken.
Im Rahmen des Projekts „Das Land, das ich nicht kenne“ reisen Sie durch ostdeutsche Städte und sprechen dort mit Geflüchteten, die ihr Land verlassen mussten und Ostdeutschen, die bis heute mit den Folgen der Wiedervereinigung hadern. Sie bringen beide in gemeinsame Projekte. Wie gelingt der Dialog?
Der Dialog gelingt durch ehrliches Interesse. Ich interessiere mich für Menschen und möchte sie verstehen. Das wichtigste an diesen Filmprojekten ist, dass man den Leuten zuhört und sie nicht abstempelt. Wir lassen die Teilnehmer spüren, dass sie nicht moralisch bewertet werden, dadurch kommen wir immer sehr gut in Kontakt. Und dann werden die Projektteilnehmer auch auf die anderen Menschen neugierig, mit denen ich in Kontakt stehe. Im Rahmen unserer Projekte haben sich Menschen kennengelernt, deren Alltag sich vorher nicht berührt hat. Und das kann dann über die Zusammenarbeit hinausgehen: Eine Punkerin und ein sächsischer Kommunalpolitiker, die sich über uns kennenlernten, sind gemeinsam an die ukrainische Grenze gereist, um dort Freunde von mir abzuholen. Und ein Freund aus dem dörflichen Raum hat eine ukrainische Familie für eine Woche in seiner Wohnung beherbergt, obwohl er eigentlich nicht möchte, dass andere Menschen hierherkommen. Wenn man Menschen ernst nimmt, kann viel geschehen.
Interview: Leonie Lotti Soltys, Politikwissenschaftlerin in Berlin
Georg Genoux: Der 1976 in Hamburg geborene Theaterregisseur Georg Genoux arbeitet für die Freie Kunstschule Hamburg – FIU e. V. mit Menschen aus der Zivilgesellschaft, die Leid, Flucht oder Unsicherheit erfahren haben. Über 90 Projekte hat er bereits verwirklicht, viele davon in Osteuropa. Seine regelmäßig ausgezeichneten Theaterproduktionen sind vielfältig wie die Menschen darin. Er arbeitet mit Schülern in der Ukraine, syrischen Geflüchteten oder mit der Bevölkerung im ländlichen Sachsen. Sein Ansatz: Die Beteiligten können über die Kraft des Theaters das Erlebte ausdrücken. Seit 2021 produziert Genoux mit seinen Partnern im Gemeinschaftsprojekt „Theatre 4 National Affairs“ Inszenierungen ausschließlich für ein digitales Format – gefördert durch KULTUR.GEMEINSCHAFTEN, dem digitalen Transformationsprogramm der Kulturstiftung der Länder und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Dieser Beitrag ist im Juli 2022 im Magazin Arsprototo (Ausgabe 01/2022) erschienen.